Ein Agent (A) und ein Leser (L) unterhalten sich auf der Buchmesse.
A: Darf ich dich zu einer Lesung heute Abend einladen? Wir haben interessante Autoren.
L: Wie lange wird sie dauern?
A: Anderthalb Stunden plus Nachgespräch, wenn unser timeslot für den Raum es zulässt.
L: Was gibt es?
A: Aus den »10 wichtigsten Romanen der Gegenwart«; schöne Buch-Kassette; hört sich etwas marktschreierisch an. Aber die Auswahl von 2021 überzeugt und verkauft sich gut, jetzt sogar mit 40 % Rabatt: Setz, Menasse, Herrndorf, Schulze -- Klassiker von morgen halt.
L: Das klingt verlockend. Aber ist das jetzt noch Gegenwart oder schon Klassiker – nach vier Jahren?
A (scherzhaft): Klassiker der Gegenwart.
L (blättert in einem Buch aus der Kassette, schlägt eine Seite auf, liest): „Wenn mich das Leben eins gelehrt hat, dann, es zu ertragen, es nie in Frage zu stellen…“ -- Na dann sind wir uns schon einmal nicht einig -- (nimmt ein anderes Buch:) -- „Warum geht alles so schnell? Wo sind die Jahre hin?“ – Die sind vergeudet, wenn ich sie damit verschwende, solche Plattitüden zu lesen -- (ein weiteres Buch, diesmal aus der „Anderen Bibliothek“): „...die in Lichtjahren gemessene Zeit“ -- Ein solch grober Schnitzer auf Seite eins ist unverzeihlich! – Ich passe vor so viel Weisheit. Es ist wohl nichts für mich dabei. Ich lese lieber ältere Sachen.
A: Es gibt auch spannende neue Bücher.
L: Ich sehe die Bücherflut hier auf der Messe, und alles Neuerscheinungen! Wer soll das alles lesen? Diese Schwemme überwältigt mich regelmäßig, und meistens kaufe ich davon – nichts. Und wenn nach vier Jahren schon alles als »Klassiker« – verzeih’ den harschen Ausdruck -- verramscht wird, um Platz für jungfräuliche, möglichst debütante Ware zu machen, fühle ich mich bestätigt.
A: Und warum bist du dann hier?
L: Ich suche einige Neuausgaben älterer Bücher. Denn ich habe festgestellt, dass viele dieser Bücher tatsächlich auf dem Buchmarkt nicht mehr verfügbar sind. Selbst antiquarisch sind wichtige Ausgaben wie Vladimir Nabokovs Puschkin-Kommentare oder Robert Walsers Mikrogramme nicht mehr (oder nur antiquarisch zu Mondpreisen) verfügbar. Dies versetzt mich gelegentlich in Angst und Schrecken und ich kaufe auf Vorrat Bücher, meist Klassiker, die ich unbedingt einmal lesen möchte.
A: Dann ist diese Kassette doch das Richtige für dich!
L: Durchaus. Aber wie ist es mit den ganz neuen Büchern? Hab ich damit vielleicht Zeit vergeudet, die ich mir hätte ersparen können? Ist es die Zeit wert, sie zu lesen?
A (abweisend): Diese Verantwortung kann und will ich dir nicht nehmen. Es ist dein alleiniges Risiko, mit dem du leben musst.
(wieder zugewandt): Tatsächlich, als Autor nehme ich Zeit in Anspruch. Ich beanspruche die Zeit, die du als Leser brauchst, um mein Buch zu lesen. Diese Zeit sollst du mir opfern und auf deine eigene Lebenszeit verzichten.
L: Wenn ich die Wahl zwischen einem alten Roman und einem neu erschienenen habe, muss ich mich entscheiden. Da die Anzahl möglich zu lesender Bücher im Leben eine begrenzte ist, bedeutet die Wahl einer Neuerscheinung, dass ich ein altes Buch, welches schon lange in meinem Regal steht und auf die Lektüre wartet, nicht gelesen werden kann. Umgekehrt bedeutet die Entscheidung, endlich einmal den Don Quijote oder Ulysses zu lesen, in der Folge, mindestens einen Roman gleichen Kalibers nicht zu lesen und auf die ein oder andere Neuerscheinung zu verzichten. Natürlich könnte ich auch auf ein anderes altes Buch verzichten. Aber der Kanon der noch zu lesenden alten Bücher ist eher anwachsend, viele stehen schon wartend in meinem Regal. Ihr Alter spricht klar für sie.
A: Das kumulative Lesepensum ist in der Tat eine wachsende Hypothek meines Standes seit Erfindung der Druckerpresse.
L (augenzwinkernd): Als Entgegenkommen kann ich akzeptieren, dass die Romane tendenziell immer kürzer und immer monothematischer werden. Allein aus den 1300 Druckseiten von Wielands Aristipp könnte ein Autor heute ein ganzes Lebenswerk zusammenstricken. Ein 80-Seiten-Büchlein als Roman zu verkaufen, ist dagegen heute keine Seltenheit mehr.
A (etwas verärgert): Aber seien wir doch ehrlich: Als Leser nutzt du nicht jede Sekunde und Stunde deines Lebens so, dass du deren nutzloses Verstreichen nicht verschmerzen könntest. Es vergeht sehr viel mehr Zeit damit, Nichts oder Sinnloses zu tun als Nützliches, Sinnvolles, Erfüllendes. Da wiegt es nicht schwer, auch mal ein Buch zu lesen, welches keinen weiteren Nutzen hat, als nur die Zeit zu vertreiben. Nein, ich selbst bereue es nicht, auch mal ein Buch gelesen zu haben, das ich nicht hätte lesen sollen. Es liegt an mir, diese Erfahrung zu machen. Und wie soll ich sonst zu der Erfahrung kommen, dass es gute und schlechte Bücher gibt, lesenswerte und weniger lesenswerte, wenn ich nicht auf beiden Seiten die Erfahrung selbst mache?
L: Damit verteidigst du deine ganze Branche, mitsamt allem literarischen Unrat, der bei jeder Buchmesse unsere Lesekanäle verstopft.
A: Ich als Agent habe den Anspruch, dass mein Buch nicht bloß der Erfahrung dienen soll, zu wissen, wie ein gutes Buch gemacht ist. Ich habe einen höheren Anspruch. Ich möchte den Leser in Geschichten fesseln.
L: In welchen Geschichten?
A: Einen guten Roman zeichnet aus, dass er seine Zeit widerspiegelt. Und dass er dies mit angemessenen Mitteln tut, also in einer Prosaform, die dem Erzählten entspricht und den Leser in seiner Gegenwartswelt packt. Das lässt sich nicht auf die gleiche Weise wiederholen. Es muss immer wieder neu geschehen. Mit der gleichen Berechtigung, mit der er die Altvorderen gemacht haben, nehme ich es auch für meine Autoren in Anspruch. Auch sie haben sich in erster Linie an ihre Zeitgenossen gerichtet.
L: Als ich im Auto hierher fuhr, habe ich dreimal Nachrichten im Radio gehört. Alles ganz schlimm und äußerst belastend: Drohnenangriffe auf die Ukraine, die israelischen Geiseln in Gaza, der unsägliche Trump, die Erderwärmung, Waldbrände in Kanada. Das alles treibt mich um, und doch suche ich dann abends, wenn ich ein Buch lese, Erfüllung in einer Erzählung, in der es um etwas ganz anderes, weit Entferntes geht, wie zum Beispiel in einer dieser menschenleeren Natur-Geschichten von Robert Walser.
A: Gerade zu Walser sagte mir neulich eine Leserin, das sei ihr zu weit weg, habe nichts mit ihrem heutigen Leben zu tun. Sie möchte Geschichten lesen, die ihre eigene Lebenswelt, und damit die Gegenwart, belangen. Auch die Sprache Walsers sei ihr fremd. Immer dieses „lieb“.
L: Ich liebe das dünne Eis, auf dem diese Geschichten stehen. So sehr ich deine Perspektive aus der Sicht des Autors verstehe und sie sogar für wichtig halte: als Leser bin ich an meiner eigenen Zeit hingegen gar nicht so sonderlich interessiert. Ich versuche, mein Leben selbst zu reflektieren und möchte auch eine unwillkommene Vorwegnahme meiner eigenen Reflexionen vermeiden. Kaum gibt es neue Dinge, neue Entwicklungen, Ereignisse im Zeitgeschehen, die ich gerade erst mitbekommen habe, erscheinen darüber schon die ersten, hoch gepriesenen Romane, die solche Dinge zum Gegenstand haben und meinen eigenen Reflexionen zuvorkommen, womit sie beinahe ungebührlich in mein Leben eingreifen könnten. Muss ich darauf brennen, nun endlich die ersten Romane zum Thema Queerness, Migration, Flucht, Krieg in die Finger zu bekommen? Übrigens ist keines dieser Themen neu. Nein, lasst mir Zeit, die Dinge eine Weile selbst zu betrachten.
A: Wenn die Geschichte gut ist und auch gut erzählt, dann ist es doch wohl egal, ob sie in der Vergangenheit stattfindet oder jetzt. Ist es bei Büchern der Vergangenheit demnach nicht genau so?
L: Wäre ich Schriftsteller -- kein Journalist oder Reporter, wohlgemerkt --, dann wäre es für mich völlig unmöglich, über Dinge zu schreiben, wenn ich noch handeln und eingreifen könnte. Ich könnte als Fotograf auch keinen sterbenden Soldaten ablichten, anstatt ihm zu helfen. Du könntest Geschichten erfinden, die noch niemand erzählt hat. Und so, wie sie noch niemand erzählt hat, ja. Da gibt es sicherlich auch gute Beispiele, so wie die Werke der oben genannten Buchedition, die du jetzt nennen könntest, inklusive deiner eigenen Prosa. Ich habe diesbezüglich aber Hemmungen. Denn zu diesem Erleben in der Jetztzeit zähle ich solches nicht hinzu, gleichwohl aber Bücher der Vergangenheit. Warum? Sie substituieren nicht, sondern sie bereichern meinen eigenen Erinnerungshorizont, meine eigenen Reflexionen und Gedanken in Richtung eines erweiterten Erinnerungsschatzes, dessen Erschließung durch Selbsterleben nicht mehr möglich ist. Sie werden selbst zum Erlebnis. Sie treiben mich zeitlich über mich hinaus. Dort, und nicht hier und jetzt, finde ich die spannendsten neuen Geschichten. Und durch die Distanz setze ich sie nicht in Beziehung zu mir selbst, was mich frei macht.
A: Du liest Bücher als Flucht vor der Wirklichkeit?
L: Nein, ein Beispiel. Neulich las ich in einem Buch von 1956:
A.: Warum so ungehalten?
B.: Man kriselt im nahen Osten. Es wehrpflichtet sehr. Die
Großmächte poltergeistern. Politikerfräcke fledermausen : es
wird wieder einmal Nacht.
A.: Sie glauben nicht an Entwicklung ? Menschheit ?
Weltvernunft ?
A: Ah, Arno Schmidts Radiodialoge. Damals war das wohl nur ein Reflex – Zufall, ohne Bedeutung!
L: Aber einer, der auf das damals aktuelle Geschehen reagierte. So etwas heute zu schreiben, ist legitim. Es entfaltet, wenn es trifft, seine Wirkung jedoch erst viele Jahre später, eben durch die verblüffende Hellsichtigkeit. Erst heute hat diese Stelle für mich einen Wert, der damals nicht in der Absicht gelegen haben muss. Nur dadurch, dass das Zitat 74 Jahre alt ist, ist es für mich jetzt von Bedeutung. Auf eventuellen Reflexen auf die heutige Zeit kann ich dies womöglich nicht beziehen. Dazu sind die Ereignisse zu nah und zu sehr von mir selbst erlebt. Würde ich mich auf Romane der Jetztzeit beschränken, ginge mir diese ganze innerlich erlebte Welt der Vergangenheit verloren.
A: Ich verstehe den Konflikt, doch Kunst sollte die Zeit aufgreifen, in der wir leben. Denn nur in dieser besitzen wir wahre Expertise.
L (sophistisch): Kann es denn einen strengen Gegenwartsbezug überhaupt geben? Ist nicht jedes Buch schon veraltet in dem Moment, wo es erscheint? Gerade in unserer Zeit. 40 % Rabatt nach vier Jahren und den Klassikerstempel schon drauf! Diesbezüglich ist das träge Buch doch nun wirklich ein hoffnungslos veraltetes Medium. Doch während Bücher geschrieben werden, verstreicht schon die Zeit, auf die sie Bezug nehmen. Ihren Wert können sie nur im zeitlichen Abstand entfalten, wie ich mit dem Schmidt-Zitat zeigen wollte.
A: Also schreibt der Autor nicht für dich, sondern für zukünftige Leser?
L: Wäre das schlimm?
A: Aber davon können er und ich nicht leben. Deine Generation muss meine Bücher kaufen.
L: (lacht) Gut, ich stelle es ins Regal, für die Erben.
A: Die Zeit holt uns ein.
L: Thomas Mann hielt es noch für nötig, die Vergangenheitsform seines Zauberbergs in einem »Vorsatz« zu rechtfertigen, hat der Erste Weltkrieg bekanntlich seinem Roman durch diese umwälzende Zäsur in die tiefe Vergangenheit katapultiert und gleichzeitig finalisiert. Aber auch durch die lange Schreibdauer von sieben Jahren rückt das erzählte Geschehen bereits während seiner Entstehung unaufhaltsam immer weiter in die Vergangenheit. So ergeht es zwangsläufig aller längeren Prosa, welche Zeit zum Schreiben in Anspruch nimmt. Eine Echtzeit-Gegenwartsliteratur kann es daher in der klassischen Form gar nicht geben.
A: Immerhin werden die dringenden Leseempfehlungen zum Zauberberg meist damit begründet, der Roman habe von seiner Aktualität nichts eingebüßt und sei gerade aufgrund seiner Problematik bezogen auf die heutige Zeit genau so lesenswert wie damals. Dies zeichnet natürlich einen guten Roman aus. Darüber sind wir uns alle einig. Aber muss dies auch so sein? Darf ich einen Roman gut und lesenswert heißen, der heute nicht mehr aktuell ist? Der uns keine Fragen in unserer Gegenwart beantwortet, den die Zeit eingeholt hat, kurzum: der nicht mehr „relevant“ ist, wie man heute sagt? Über die Wichtigkeit der Historie brauchen wir nicht zu diskutieren, aber über die Relevanz im Vergleich zu zeitgenössischen Werken, die unserer unmittelbar, selbst erlebte Zeit verarbeiten. So ist beim Zauberberg die Aktualität auch heute noch unbestritten. Und es sind noch viel mehr Jahre, hundert inzwischen, seit dem Erscheinen vergangen. Und dies ist etwas, das für mich als Agent euch heute entscheidend ist. Mein Roman handelt im Jetzt, aber er hat, wenn er gut ist, auch im 10..20 Jahren noch noch etwas zu sagen.
L (spitzfindig): Ich bin jetzt einmal gemein. Was ist an den Elixieren des Teufels heute noch aktuell? Diese schwarze Romantik, der ausgeflippte Mönch, der zum Verbrecher wird, die heillos idealisierte Frauengestalt. Die Leute sind zu Fuß unterwegs, im finsteren Wald, wohnen in Klöstern, Herrenhäusern und Schlössern. Die religiöse Verklärung und all das. Was will man heute damit anfangen?
A: Hoffmann? Der war groß! Ich kann dir keine Antwort geben, aber das zu lesen ist ein Gewinn, auch heute noch. Er konnte so gut erzählen.
(resignierend) Wir halten die Zeit, die wir mit Lesen verbringen, wohl nicht mehr für so selbstverständlich. Wir ziehen sie von der Lebenszeit ab. Sofern ich meine Lebenszeit als eine solche auffasse, in welcher ich auch Texte produziere und mit geschriebenen Texten arbeite, sehe ich keinen Widerspruch zwischen der erlebten und der gelesenen Zeit, sondern im Gegenteil eine Notwendigkeit. Wenn das Schreiben aber nicht mehr in unsere tägliche Erfahrungswelt hineingehört, zum Beispiel indem wir das Schreiben an eine KI-Maschine abtreten, dann entsteht eine Diskrepanz. Ich muss eine Technik anwenden, welcher meiner Zeit nicht mehr angemessen ist.
Es scheint eine allgemeine Tendenz zu geben, seine Zeit nicht mehr mit der mühseligen Erstellung von Texten zu vergeuden. Das ist ein ästhetisches Problem. Der zeitgemäße Autor sitzt im ICE und tippt seine Prosa in den Laptop. Die ersten Lyrikbände, deren Autor die Texte in sein Smartphone gesprochen hat, sind bereits erschienen und werden enthusiastisch bejubelt. Das Lektorat wird durch KI ersetzt, und diese merzt alle Unebenheiten aus und erzieht unsere Autoren, so zu schreiben, wir es die KI, an die wir Leser bereits gewöhnt sich, tun würde. Die ästhetische Normierung durch die KI wird auf unser Schreiben Einfluss haben. Wenn ich als Autor an meinem Schreibtisch sitze, den Füller in der Hand vor dem Blatt, und das Geräusch genieße, mit dem die Feder die dicke Tinte auf das teure Papier aufbringt, und es genau das richtige Tempo hat, in welchem ich meine Gedanken dort ausfließen lassen kann, dann bin ich wohl aus der Zeit gefallen.
L: Bestenfalls entstehen aus diesen Entwicklungen neue Kunstformen.
A: Zeitersparende...
L: Wollen wir beide das?
A (versöhnlich): Nein, wir wollen, dass Lesezeit eine doppelt genossene Zeit ist. In Wirklichkeit ist die Lesezeit immer der Erlebenszeit hinzuzurechnen und nicht abzuziehen -- Ach was, nicht „rechnen“, da liegt nämlich der Fehler. Du musst gar nicht entscheiden, ob du ein Buch statt eines anderen liest oder nicht.
L: Ich gebe dir recht. Das Zeitgefühl rechnet nicht, was auch immer das auch ist -- »Zeitgefühl«. Während ich einen Roman lese, lebe ich -- wenn er gut ist, versinke ich -- in der erzählten Zeit des Romans. In der Regel ist jedoch weder das Zeittempo, in welchem der Roman erzählt wird, nicht identisch mit dem Zeittempo, in welchem er gelesen wird, noch ist es der Zeitraum, in dem gelesen wird, identisch mit dem Zeitraum, in dem die Handlung spielt. Auch der Ablauf ist ein ganz anderer. Es ist eher so, dass beide Zeiten sich summieren zu einer Gesamterfahrensszeit, und zwar in dem Maße, in welchem die beiden Zeitebenen sich nicht berühren.
A: Sagst du! Aber Hans Castorp kommt auch nicht drauf, mit welchem Sinnesorgan wir Zeit wahrnehmen.
L: Die Physiker glauben es zu wissen, indem sie Zeit durch Raumprojektionen messen; also die räumliche Veränderung des Uhrzeigers zwischen zwei zeitlich aufeinanderfolgenden Ereignissen wie zum Beispiel dem Durchgang der Venus durch die Sonne. Wir könnten den Unterschied aber nicht sehen, wenn wir den ersten Zustand des Zeigers nicht erinnern und dokumentieren könnten, um ihn mit dem zweiten Zustand durch einen Sinnzusammenhang zu verbinden. Also ist doch unser Gedächtnis in Verbindung mit Kausalität dem »Zeitsinn«, den Hans Castorp nicht findet, oder?
A: Von Physik verstehe ich nichts. War immer schlecht in Mathe.
L: Bücher, Kunstwerke überhaupt, sind solche Gedächtniszustände, aus denen wir unser Zeitgefühl sinnstiftend entwickeln.
A: Und es ist Aufgabe der Künstler, sie jederzeit aufzunehmen und zu speichern.
L: Ja.
A: Wie viel Zeit braucht also Kunst?
L: Die Frage ist eher: Wie viel Kunst braucht die Zeit?
A: So viel wie möglich! Was machst du eigentlich beruflich?
L: Ich bin Pianist.
A: Das wundert mich jetzt nicht.
L: Ich danke dir für deine Zeit.
A: Ich danke dir für deine Bücher.
(geschrieben im August 2025, veröffentlicht im November 2025)